Hinführung
Zwei Erzählstränge bietet uns das außergewöhnlich lange Evangelium des heutigen Sonntags. Im ersten Erzählstrang, den Versen 1-7, erläutert der Evangelist Johannes den Grund der Blindheit des namenlosen Mannes und den Ablauf seiner Heilung. Der zweite Erzählstrang umfasst die Verse 8 – 38 in dem die hitzige Debatte infolge der Heilung Schritt für Schritt geschildert wird, die dann in die Kernaussage dieser Frohen Botschaft mündet.
Prozesselemente der Heilung
In den ersten 7 Versen geht es um die Deutung der Blindheit, denn der namenlose Blinde ist nicht irgendwann in seinem Leben z.B. durch einen Unfall erblindet, sondern er konnte von Geburt an nicht sehen. Die Jünger brachten sofort Blindheit und Sünde in einen unmittelbaren Zusammenhang und fragten Jesus sehr zielführend wer gesündigt habe, der Blinde selbst oder seine Eltern. Auf Grund ihrer frommen Sozialisation nahmen sie an, dass Blindheit die Strafe Gottes sei in Folge einer Sünde, die schon in der Familie des Betroffenen vor seiner Geburt z.B. durch die Eltern begangen wurde. Gott bestraft, so die Annahme, nicht unbedingt die Tätergeneration, sondern auch die darauffolgende Generation der Kinder. Mit dieser „frommen“ Vermutung der Jünger räumt Jesus allerdings sofort auf und verdeutlicht, dass es um das Gegenteil geht, also nicht um Strafe, sondern um die Güte Gottes. Diese vollzieht sich im göttlichen Handeln in der Welt und wird hier erkennbar („greifbar“) in der Heilung des Blinden. Auf diese Ausführungen folgt die präzise Prozessbeschreibung der Heilung. Auffallend hierbei ist die Verwendung von Speichel. An nur drei Stellen im NT wird von der Berührung an Mund und Augen durch Speichel berichtet. In der antiken Medizin war es üblich, körpereigene Säfte aller Art angereichert mit wohlriechenden Ölen oder auch Honig als „Medikament“ zu verwenden. Allerdings ist der Grund der Verwendung von Speichel in dieser Perikope nicht eindeutig zu klären. Den Prozess der Heilung beschließt der Evangelist mit der Erkenntnis: „Er konnte sehen.“
Deswegen ist das Evangelium etwas länger
Bei dem Bericht über die Wunderheilung hätte es die katholische Leseordnung vordergründig belassen können. Aber gerade in dieser Blindenheilung ist die darauffolgende heftige Auseinandersetzung begründet. Heilung und die folgende Disputation gehören zusammen. Deswegen mutet uns die katholische Leseordnung an diesem Sonntag auch ein etwas längeres Evangelium zu, denn diese Disputation kann auch Hörerinnen und Hörern heute die Augen öffnen.
Der Beginn der Auseinandersetzung
Dem Heilungswunder folgt nicht, wie man vermuten könnte, erst einmal allgemeines Staunen, Bewunderung für den Heiler oder Gratulationen an den Sehenden. Das Wunder löst die folgende heftige Diskussion aus. Eröffnet wurde sie durch die herumstehenden Beobachter, die sich unsicher waren, ob der Blinde derjenige sei den sie kannten, oder ob er ihm nur ähnlich sehe. Der ehemals Blinde klärt ihre Zweifel zu seinen Gunsten. Dann fragen sie ihn neugierig, wie er sehend geworden sei. Da erzählt der ehemals Blinde von dem Prozess der Heilung und von Jesus, wie wir es auch eben als Evangelium gehört haben. Nun aber waren die Herumstehenden mehr an dem Verursacher der Heilung interessiert und fragten, wo dieser Jesus denn sei. Darauf konnte der Geheilte ihnen keine Antwort geben.
Die „wissenden“ Pharisäer
Dann brachten die Umherstehen die Pharisäer ins Spiel. Pharisäer waren fromme Männer, die ganz auf der Seite der Tora standen, der Gesetze Mose und dafür sorgten, dass das Volk diese auch einhielt. Eher kritisch fragten auch sie den ehemals Blinden, wie er sehend geworden sei. Der Sehende, der in Jesus einen Propheten erkannte, erzählte seine Story nochmals. Doch die Pharisäer hatten sich schon längst darauf festgelegt dass Jesus weder ein Prophet noch von Gott gesandt sein konnte, denn sie meinten ihn als Sünder entlarven zu können. Ihre Begründung war gesetzmäßig und musste deshalb allen einleuchten. Jesus hatte einen Klumpen aus Erde und Speichel gemacht, das war in den Augen eines frommen Juden Arbeit und Arbeit war am Sabbat verboten. Somit ist Jesus logischerweise ein Sünder! Weiterhin glaubten die Umherstehenden nicht so richtig an die Heilung dessen, den sie meinten zu kennen und bemühen nun auch noch die Eltern des Sehenden, seine Identität zu bestätigen, was sie auch taten. Ansonsten hielten sich die Eltern zurück, weil sie Angst vor den Pharisäern hatten, in deren Gedankenwelt ein guter Jesus keinen Platz hatte. Bei den Herumstehenden und den Pharisäern gab nun weiter ein Wort das andere.
Der Geheilte lernt sehen
Aber in dem weiteren Verlauf dieses Schlagabtausches entpuppte sich der ehemals Blinde und nun Sehende als einer, der sensibel wurde für die göttliche Sendung Jesu und der spürte, welche Kraft von ihm ausging. Denn von den Pharisäern nochmals befragt, wie er sehen konnte und woher dieser Jesus kommt, bekannte er sich für alle hörbar zu Jesus als einem Propheten, einem von Gott Gesandten, der ihm die Augen geöffnet hat.
Ausschluss und neue Einsicht
Das reichte den Pharisäern, um den ehemals Blinden als Sünder aus der Synagogengemeinschaft rauszuschmeißen. An dieser Stelle nun wird deutlich, wer die wahren Sehenden und wer die wirklich Blinden sind. Denn in diesem Schlagabtausch entlarven sich die Pharisäer selbst als diejenigen, die sich vor dem „unberechenbaren“ Handeln Gottes verschließen. Der ehemals von Geburt an Blinde jedoch lernte mehr zu sehen, als die immer schon Sehenden bisher sehen konnten bzw. wollten.
Im Licht der Sehenden
Der abschließende Dialog, der die Umherstehenden und Pharisäer im Dunkel stehen lässt, entfaltet die Strahlkraft der Botschaft: Jesus fragt den ehemals Blinden: Glaubst du an den Menschensohn? Dieser erwiderte: Sag mir, wer das ist, damit ich an ihn glaube. Jesus antwortet: Du hast ihn bereits gesehen, es ist der, der mit dir redet. Darauf beschreibt der biblische Bericht die Reaktion des Sehenden als Bekenntnis „Herr ich glaube“ und als Verehrung die Geste des sich Niederwerfens. Aber unbeschrieben, da unbeschreibbar, bleibt wohl was der Sehende gespürt haben muss als ihn dieses Licht durchflutete. Dieses so ausführlich festgehalten Gespräch verdeutlicht Schritt für Schritt die zunehmende Blindheit der professionell Sehenden (Pharisäer) und das geschenkte Sehvermögen des ursprünglich Blinden und nun Sehenden.
Evangelium aktuell
Dieses Evangelium ist keine Einladung nun aktuell mit dem Finger auf jene zu zeigen, von denen subjektiv angenommen werden kann, dass sie in unserer Kirche zu den neugierig Herumstehenden gehören, oder zu den (hauptamtlichen) Besserwissern, oder zu den jenen, denen mal die Augen geöffnet werden müssten. Inspirieren will die im Evangelium angewandte kommunikative Figur der Diskussion, der Disputation, des sich Auseinandersetzens.
Wir selbst müssen den Glauben ins Gespräch bringen
Als Kirche, als Gemeinschaft von Glaubenden sind wir für weite Teile unserer Gesellschaft uninteressant. Kirche wird kaum noch zu gesellschaftlichen Themen angefragt. Sie wird aber auch nicht mehr auf ihr Kerngeschäft hin angesprochen mit Fragen wie, was bedeutet es zu glauben, oder wie geht Glauben heute. Dieses nicht mehr gefragt zu sein veranlasst die einen sich als schrumpfendes Häufchen der Glückseligen zurückzulehnen, oder in der Trauer um die gestorbene Volkskirche zu versinken. Andere pfeifen Protest gegen eine überholte Kirche und für eine andere, die grundlegend neu aufgestellt werden müsste. Das alles mag den Realitäten einzelner entsprechen, aber es reicht nicht. Wir sind gefordert, der Selbstmitteilung Jesu folgend, uns selbst und somit unseren Glauben ins Gespräch zu bringen. Wir müssen uns stellen, unseren Glauben in der Gesellschaft verantworten, unser Bekenntnis ins Gespräch bringen, wo es möglich ist, aber nicht nur dort, wo es gelegen kommt.
Klage ist Anlass zur Disputation
Die folgende bittere Klage eines jungen Mannes steht für die Empfindungen vieler Menschen heute: „In schweren Stunden habe ich von Gott nichts gespürt, der war nicht da. Ich war als Messdiener aktiv aber nach meiner Firmung habe ich mich gefragt, was das bringt. Zur Kirche gehe ich nicht mehr und mit 18 trete ich aus der Kirche ganz aus, für den Verein kann man sich ja nur schämen.“ Wenn uns solche Kritik überhaupt noch erreicht, dann müssen wir uns mit den klagenden Menschen zusammensetzen um uns mit den unterschiedlichen Bewertungen, Einsichten und Deutungen auseinander setzen zu können. Also hinschauen und nicht wegschauen, einander Augen öffnen, weiter sehen als gedacht, sehen was bisher nicht wahrgenommen und immer wieder zuhören.
Christoph Stender
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