Die Rechte der Kinder
„Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen!“ – „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, machst du was ich sage!“ – oder anscheinend humorvoll gemildert „Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel Pause!“ Die Älteren unter Ihnen kennen diese Sprüche vermutlich. Das Kind hat sich dem Willen seiner Eltern und weiterer Autoritätspersonen bedingungslos zu unterwerfen. Punkt. So war das früher. Heute wissen es die meisten Eltern besser.
Doch geht es den Kindern weltweit besser? Kinderarbeit nimmt auf dem Globus zu: Etwa 160 Millionen Mädchen und Jungen zwischen 5 und 17 Jahren sind nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation und UNICEF heute von Kinderarbeit betroffen. Sie schuften in Steinbrüchen, in Minen, in Fabriken, auf Plantagen, auf Märkten oder als Hausbedienstete. Nicht zu vergessen ist die Zunahme der Gewalt gegen Kinder: körperliche und psychische Misshandlungen, sexualisierte Gewalt, Vernachlässigung. Mädchen, behinderte Kinder, kranke Kinder, Kinder von Minderheiten haben es hier besonders schwer.
Demgegenüber klingt der Text der UN-Kinderrechtskonvention vor fast 35 Jahren geradezu nüchtern. Allein 196 Vertragsstaaten der UNO sicherten damals zu, dass sie alle „geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen“ treffen, „um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen“.
Die Kinderrechtskonvention war und ist ein zentraler internationaler Durchbruch für die Durchsetzung von Kinderrechten. Minderjährige galten bis dato weithin als rechtlos. Nach Ratifizierung der Kinderrechtskonvention mussten die Staaten die vereinbarten Kinderrechte in nationales Recht umsetzen und die Einhaltung der Kinderrechte kontrollieren. Kinder haben Rechte auf Gleichbehandlung, auf Bildung, auf gewaltfreie Erziehung, auf Schutz vor Gewalt und Ausbeutung. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber nicht.
Denn noch immer noch erleben weltweit drei von vier Kindern zwischen zwei und vier Jahren Gewalt durch Eltern und Erziehende. Selbst in Deutschland ist „fast jeder Zweite noch immer der Auffassung, dass ein Klaps auf den Hintern noch keinem Kind geschadet habe“, so UNICEF Deutschland. Zur umfassenden Umsetzung der Kinderrechte ist es noch ein weiter Weg.
Kinderrechte vor 2000 Jahren?
Gehen wir zurück zu den Kindern in der Antike, nach Israel um die Zeitenwende. Hier bestimmte wie auch im alten Rom das männliche Familienoberhaupt über alle Kinder der Familie. Kinder ohne Vater waren die Schwächsten der Schwachen. Zu sagen hatten Kinder nichts. Ihre Meinung spielte keine Rolle. Eine lange Kindheit mit Spielen, Lernen, Ausprobieren gab es nicht.
Denn die meisten Familien in Israel brauchten die Arbeitskraft ihrer Kinder. In Nazareth, einem Dorf mit ein paar hundert Menschen, werden die Kinder früh in Landwirtschaft und Handwerk mitgearbeitet haben. Jungen durften nebenbei die Thora studieren, die Mädchen nicht. In privilegierten Familien konnten Jungen Priester oder Schriftgelehrte werden, die Mädchen nicht.
Das Erwachsensein kam abrupt. Früh wurde geheiratet. Nachkommenschaft war wichtig. Das Leben war meist kurz. Maria wird ein sehr junges Mädchen gewesen sein, als sie Mutter wurde.
Der Code für das Gottesreich
Irgendwo in einer Gegend am Jordan predigt Jesus. Er ist auf seinem Weg nach Jerusalem. Die Menschen kommen in Scharen zu ihm und er lehrt sie wie gewohnt (Mk 10,1). Jesus hat zu tun. Dazwischen bringen Leute ihre Kinder zu Jesus. Er soll sie berühren, umarmen, so der Verfasser des Evangeliums. Keine große Sache, es geht um einen geistlichen Segen, denkt man. Doch seine Jünger, von Jüngerinnen ist hier sowieso nicht die Rede, sind nicht begeistert. Sie wollen das nicht. Sie herrschen die Kleinen an. Keine große Sache, wie oft werden Kinder aggressiv weggeschickt, wenn Erwachsenendinge besprochen werden?
Was sich die Jünger dabei gedacht haben, sagt das Evangelium nicht. Auf jeden Fall sehen sie sich bemüßigt, den Zugang zu ihrem Rabbi zu regulieren. Kinder haben hier keinen Platz. Und sie haben die Kontrolle, wer zu Jesus kommen darf und wer nicht. Abgesehen davon handeln sie im Sinne der Tradition. Kinder haben bei einem hohen Herrn sowieso nichts zu sagen, sie stehen am untersten Ende der sozialen Leiter.
Doch Jesus missfällt das. Er entrüstet sich (MK 10,14a), ihn ärgert das arrogante Verhalten seiner Vertrauten. Das ist neu und anders als erwartet. Jesus erkennt, dass sich die Jünger gegenüber den Kindern aufspielen. Es geht hier nicht um Konventionen, sondern um Machtansprüche. Die Jünger bilden sich auf ihre Nähe etwas ein und werden arrogant den Schwächsten gegenüber. Jesus schließt sich nicht der vermutlich damals gängigen Meinung an, dass Kinder bei religiösen Diskussionen nicht auftauchen und stille sein sollen. Er sieht die anwesenden Kinder und bestimmt, dass sie zu ihm kommen dürfen.
Zuerst gibt er den Jüngern eine eindeutige Anweisung: Weist die Kinder nicht zurück, lasst sie zu mir kommen! Dann haut er den Jüngern verbal um die Ohren: „Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Jesus spricht seine Jünger direkt an und klärt die Situation. Übertragen in heutige Sprache meint Jesus vermutlich: Ihr denkt, ihr seid etwas Besonderes im Gottesreich, weil ihr zu meinem engeren Kreis gehört. Was bildet ihr euch bloß ein, den Zugang zu mir zu kontrollieren? Für mich stehen Kinder höher als ihr mit euren Attitüden. Wer in das Reich Gottes kommen will, muss es so annehmen wie ein Kind, sich seiner Machtlosigkeit bewusst sein und dennoch in Gott vertrauend. Das ist der richtige Code, um ins Gottesreich zu kommen, nicht eure Machtgelüste und nicht eure angeblichen Privilegien und religiösen Leistungen.
Nun dürfen die Kinder erst recht Jesus nahekommen. Er umarmt sie, legt ihnen die Hände auf und spricht den Lobpreis über sie (nach Fridolin Stier). Jesus hat Tacheles gesprochen. Die kurze Ansage wirkt mehr als große und viele Worte. Jesus weiß, das Königreich Gottes ist nah. Es ist längst Gegenwart. Die Menschen wollen wissen, wie finden wir Aufnahme ins Gottesreich, wer darf in Gottes Nähe leben, was sollen wir tun? Jesus ist da völlig klar, die Mächtigen jedenfalls nicht, sondern die Kleinen, die Gott noch vertrauen können. Das sind zuerst die Kinder und Schwachen. Und viel tun muss man auch nicht. Es kommt allein auf eine vertrauensvolle Haltung Gott gegenüber an.
Der verbale „Einlauf“, den er den Jüngern verpasst, wird gewirkt haben. Ich stelle mir vor, dass seine Jünger nach dieser klaren Ansprache wie begossene Pudel herumgestanden haben.
Dorothee Boss
|