Den Weg zur Kernaussage des heutigen Evangeliums – auch mit Blick auf das Erntedankfest – markiert der Evangelist Matthäus, indem er Jesus seine kurze Rede eröffnen lässt mit der für Jesus typischen Ankündigungsformel: „Amen, ich sage euch!“ Jesus benutzt das Wort „Amen“ nicht im Sinne wie wir es heute im Gottesdienst sprechen, wenn wir uns dem Gehörten durch unsere persönliche Anteilnahme entschieden anschließen. Das Amen, das Jesus verwendet, geht unserem Amen voraus. Er verleiht seinen Worten auf diese Weise Autorität; er selbst ist die Kraft, die in den Worten liegt, die er spricht.
Da sagte Jesus zu ihnen: „Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr. Denn Johannes ist zu euch gekommen auf dem Weg der Gerechtigkeit und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und die Dirnen haben ihm geglaubt.“ (21, 31b f.)
Gerechtigkeit ist angesagt
Die in diesem kurzen Redeausschnitt eingebettete Kernbotschaft erschließt sich über den Begriff „Gerechtigkeit“. Die Zöllner und die Dirnen, denen ja bewusst war, dass ihr Handeln den Regeln der sie umgebenden Gesellschaft nicht konform war, glaubten den Worten des Johannes (so Jesu Argumentation) an eine „höhere“ Gerechtigkeit, die auch sie - die religiös/gesellschaftlich Geächteten - betreffen würde. Diejenigen, die an eine solche Gerechtigkeit glauben, wie die von Johannes und auch Jesus verkündete, die einen „Ausgleich“ über ein bisheriges Gerechtigkeitserleben hinaus bedeutet, sind auf dem Weg in das Reich Gottes. Anders formuliert: Der Gerechtigkeit Gottes in dieser Welt und trotz dieser Welt zu trauen, ist das Ticket in sein Reich.
Doch wie geht Gerechtigkeit?
Die Frage nach Gerechtigkeit ist zeitlos und betrifft auch unsere Zeit und die Bedingungen, unter denen wir gemeinsam leben. Sie zeigt sich besonders dann als Schlüsselbegriff, wenn Menschen subjektiv oder auch objektiv erfahren, ungerecht behandelt zu werden. Gerade dann, wenn gesellschaftliche Gruppen Ungerechtigkeit erfahren und sich das Gefühl der Benachteiligung andauernd aufstaut, kann es zu Ausschreitungen und Krawallen kommen, wie z.B. in diesem Sommer besonders in den Metropolen Frankreichs.
Ungerechtigkeit erleben Menschen in sehr unterschiedlichen Kontexten, zum Beispiel dann,
... wenn die Renten, wie bis in die vergangenen Monate usus, in den „alten“ Bundesländern höher sind als in den „neuen“;
... wenn Inflation die Geringverdienenden stärker trifft als die Besserverdienenden;
... wenn Frauen für die gleiche Leistung weniger im Portemonnaie haben als ihre männlichen Kollegen
... und auch dann, wenn die einen sich Markenklamotten leisten können und die anderen nicht.
So rufen die Arbeitnehmer, vertreten durch die Gewerkschaften, in den jüngsten Tarifverhandlungen nach einer ausgleichenden Gerechtigkeit und fordern über 10 % mehr Lohn und Gehalt. Nicht allen erscheint das gerecht.
Zweifel an Gerechtigkeit
Bereits Kinder zweifeln, besonders in der Pubertät, an einer Gerechtigkeit, wenn sie erleben, dass ihre Eltern „automatisch“ mehr zu sagen haben als sie selbst. Nicht nur in dieser kleinen Welt von Kindern und Eltern kann Gerechtigkeit mit einem Fragezeichen versehen werden. Im weltweiten Kontext treten oft massive Ungerechtigkeiten auf, die Menschen polarisieren. Die Verteilung der Wasserressource ist nicht gerecht, ebenso die Verteilung der Lebensmittel, die Verfügbarkeit von Wohnraum oder die Möglichkeit zur Erlangung von Bildung. Die „Weltkarte der Verteilung von Bodenschätzen und Rohstoffen“ veranschaulicht die global ungerechte Verteilung. Viele Details, die zum Eindruck führen, dass Gerechtigkeit aussteht und der Begriff eine Aufforderung bedeutet. Allerdings scheint die Ahnung dessen, was Gerechtigkeit sein könnte, in den Köpfen der Menschen fest verankert. Mit Recht, denn wenn es auch scheinbar hier auf Erden keine von allen Menschen als gerecht empfundene Gerechtigkeit zu geben scheint, entpflichtet diese Feststellung uns dennoch nicht, mindestes in unserem Umfeld weiter nach ihr zu fahnden.
Der Gerechtigkeit eine Chance geben
Also, geben wir Gerechtigkeit nicht auf! Ein Blick in die von den Menschen in unseren Breiten mittlerweile meist gebrauchte Informationsquelle, das Internet, kann uns etwas weiterhelfen. Die Bundeszentrale für politische Zusammenarbeit lässt dort wissen: „Gerechtigkeit ist ein zentraler Grundwert und oberstes Ziel des Rechtsstaates, das als Ordnungs- und Verteilungsprinzip immer wieder neu bestätigt und angewandt werden muss.“ Diese Definition stärkt einen praktikablen Gerechtigkeitsbegriff, von dem ausgehend Gerechtigkeit als Verteilungsprinzip immer wieder und immer neu zu suchen und zu gewährleisten ist, mit dem Ziel, sie tatsächlich zu ermöglichen.
Mit Blick auf ein immer wieder neu zu bedenkendes Verteilungsprinzip ist aktuell zu überlegen, wie das Fest Erntedank zu verstehen ist, das in vielen Gemeinden heute gefeiert wird. Denn das Fest gibt nicht nur Anlass, Dank zu sagen, sondern es fordert uns einzeln aber auch als Kirche heraus, unseren Anteil am Verteilungsprinzip zu überdenken.
Erntedank versus Gerechtigkeit
„Ernte Dank“ ist kein Fest der Gerechtigkeit, sondern ein Fest der Habenden, der im Überfluss Habenden. Oder ist Ihnen schon mal zu Ohren gekommen, dass Menschen, die nichts zu essen haben, ein Hungerdankfest feiern? Wir feiern mit Blick auf prall gefüllte Lebensmittelregale unsere Dankbarkeit, wissend darum, dass die Erde genug Lebensmittel bereithält, um alle Menschen satt werden zu lassen.
Ist es da gerecht, Gott im Fürbittgebet die Not der hungernden Menschen vorzutragen, mit der Bitte, dass er sie sättigen möge? Jetzt könnte jemand anmerken: „Man kann einem auch alles mies machen“. Aber es geht hier nicht ums Miesmachen, sondern darum, ehrlich hinzuschauen.
Aber wie kommen wir nun „zufriedenstellend“ aus der Nummer Gerechtigkeit und Dank heraus? Genaugenommen, bei den vorherrschenden gesellschaftlichen Hierarchien und den weltweiten Verteilungsstrukturen gar nicht! Unser Dank für die Ernte und die ungerechte Verteilung der Lebensmittel „klingen“ einfach nicht zusammen. Das erlaubt uns aber nicht aufzugeben! Denn es gilt trotzdem sensibel zu bleiben für die Notwendigkeit der Gerechtigkeit, die Grundlage eines jeden Friedens ist. Das kann z.B. bedeuten, ein Lied ernst zu nehmen, das oft in der Eucharistiefeier zur Bereitung der Gaben gesungen wird: Der Refrain lautet: „Herr, wir bringen in Brot und Wein unsere Welt zu dir. Du schenkst uns deine Gegenwart im österlichen Mahl.“ In der letzten Strophe heißt es dann konkret: „Was er uns gibt, das gibt er für alle, damit wir es teilen mit allen Menschen. So sind wir Freunde an seinem Tisch.“ (GL 184) Möge uns dieses Lied zu konsequentem Handeln veranlassen.
Das klingt nach klein-klein, so ist es auch! Jedoch die Suche nach Gerechtigkeit, die wir im Großen nicht in der Hand haben, entpflichtet uns nicht, im Kleinen, dem uns Möglichen, Gerechtigkeit zu denken und immer wieder für sie aktiv zu werden: „So sind, so wären wir Freunde an seinem Tisch.“
Christoph Stender
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