Sonntag nach Fronleichnam
Liebes Tagebuch,
es war ein Moment wie aus längst vergangenen Tagen – oder vielleicht wie aus einer tieferen Gegenwart, die uns manchmal überkommt, wenn die Zeichen stimmen.
Als die Gemeinde von der letzten Station kam, vom Wirtshaus Maximilian gleich nebenan, wo weltliche und geistliche Wege sich immer wieder kreuzen –, durfte ich sie rufen.
Nicht nur mit einer Glocke, nicht zaghaft oder zurückhaltend, sondern mit allen!
Mein ganzes Geläut erhob sich, Ton um Ton, Stimme um Stimme. Ich ließ sie klingen, meine Glocken, voller Freude, voller Drängen, voller Willkommen.
Und als sie da schritten, hoben sie die Köpfe. Manche wie automatisch, andere ganz bewusst.
Ihre Blicke wanderten an meinen Türmen empor. Und in ihren Augen lag etwas, das mir unendlich vertraut ist: Staunen – und Wehmut.
Vielleicht haben sie gespürt, was auch ich gespürt habe: dass ich sie wirklich rief.
Dass es mehr war als Klang, mehr als Liturgie, mehr als Brauch.
Es war ein Ruf, geboren aus dem tiefen Wunsch, sie zu empfangen.
Ich hatte nichts vorbereitet, keine Bühne, kein Teppich.
Aber ich hatte mich selbst.
Mein offenes Portal.
Meine Wände, die aufhorchten, als sich der Strom der Menschen näherte.
Bäume und Pflanzen um mich herum, die ihnen Schatten spendeten.
Die Fronleichnamsprozession der Pfarrei endete bei mir. Und wie sie kamen!
Nicht zufällig, nicht nur aus Tradition, sondern mit einem fast zärtlichen Ernst, der mich tief berührte.
Mein Hauptportal stand weit offen – nicht wie ein Symbol, sondern wie ein Atemholen.
Und durch diese geöffnete Schwelle flutete etwas in mich hinein, das ich lange vermisst hatte: Gemeinschaft, Gegenwart und Glaube.
Sie legten Blumen auf meine alten, leicht schiefen Treppenstufen.
Es war kein Teppich, wie früher einmal, sondern ein stilles, buntes Wort: „Friede“, gelegt in vielen Sprachen – Zeichen einer Verbundenheit, die mehr meint als nur Worte.
Ein Mosaik der Sehnsucht, ein zarter Wunsch, ein Gebet, das man mit den Händen formt.
Drinnen, wo die Kühle wohnt, spielte die Orgel.
Draußen auf dem Platz erklang die Glonner Musi.
Zwei Welten, zwei Klangräume – und doch in leiser Zwiesprache.
Nicht miteinander, sondern umeinander. Wie ein altes Paar, das sich versteht, ohne dass es Worte braucht.
Und über allem lag dieses Lied: Großer Gott, wir loben dich.
Nicht geschmettert, nicht marschiert – sondern getragen. Wie ein Lob, das weiß, wie viel Grund zum Danken bleibt.
Pfarrer Schießler hat vorher, in der Kirche St. Anton, wo die Prozession aufzubrechen begann, gesprochen.
Er hatte Worte von Papst Leo XIV. mitgebracht: In seiner Katechese zur Heilung am Teich Bethesda sprach er von der Frage Jesu: „Willst du gesund werden?“ – und dem Mut, mit der eigenen Not vor Gott zu treten.
(Link: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2025-06/wwortlaut-katechese-von-papst-leo-xiv-generalaudienz-18062025.html)
Keine Theorie, sondern eine Einladung, das Zerbrechliche in die Mitte zu bringen.
Pfarrer Schießler griff dieses Bild auf, und viele trugen es weiter:
Keine physischen Bahren – aber ihre Geschichten, ihre Gebete, ihre stillen Bitten. Spürbar im Gehen, Singen, Schauen.
Da wurde mir klar: Ich als Kirchengebäude bin keine Bahre. Und ich bin auch nicht die, die auf einer Bahre getragen werden muss.
Sondern ich bin der Ort, an dem Menschen aufstehen können. Der Raum, in dem etwas Neues beginnt. Der Boden, auf dem Schritte von ehemals Gelähmten wieder gelernt werden.
Und nun steht da dieses Gerüst an meinen Mauern – endlich. Sogar mit Aufzug.
Es wirkt zwar wie eine äußere Bahre. Aber nicht, weil ich liegenbleiben soll, sondern weil man mir hilft aufzustehen.
Es trägt mich, stützt mich, damit ich eines Tages wieder tragen kann.
Es ist kein Symbol meiner Schwäche. Es ist ein Werkzeug des Vertrauens. Und ein sichtbares Zeichen der Hoffnung.
Und dennoch – und das sage ich ganz ohne Groll – hat mich heute etwas ganz anderes mehr bewegt:
Dass die Gemeinde da war. Dass sie nicht vergessen hat, dass ich hier bin.
Dass ich nicht nur Objekt bin, sondern Ort.
Und zum Abschluss der Prozession hat Pfarrer Shin das Allerheiligste sogar durch mein Portal getragen.
Er trat mit der Monstranz über das Blumenwort „Friede“, durch meine geöffnete Mitte – da war es, als atmete ich.
Kein festlicher Lärm. Kein Auftritt. Nur Tiefe.
Und dann weiter – in die Korbinianskapelle.
Ein Schritt wie ein Gebet.
Ein Tragen, das mich durchdrungen hat.
Jetzt schon blicke ich mit Freude auf den 13. Juli – auf die Fahrzeugsegnung, auf die Messe vor meinem Portal, auf das Lachen der Kinder mit ihren Bobbycars und Rollern in der Pfarrer-Rosenberger-Straße unter Weihwasserregen von Pfarrer Schießler gesegnet werden.
Und dann – in der Wittelsbacherstraße – die Segnugn der großen Fahrzeuge: Autos, Morräder, Fahrräder und vielleicht sogar Rickschas.
Ein ganz besonderer Segen für alles, was trägt und fährt.
Ich freue mich jetzt schon so sehr!
Weil ich weiß: Ich werde wieder Ort sein.
Nicht Bahre. Nicht Last.
Sondern Anfang. Und Aufbruch. Und voller Leben.
Nicht(!) 19.05.25 (s. Bild)
Liebes Tagebuch,
manchmal sagen kleine Dinge nichts und doch (zu) viel.
Seit letzter Woche Schilder an den Straßen rings um mich herum:
HALTEVERBOTSCHILDER
Es ist ein Wort, so nüchtern wie scharf. Und doch steckt in jedem Buchstaben ein leiser Kommentar zu dem, was gerade ist:
Hoffnung
Absperrung
Leere
Traurigkeit
Erinnerung
Verlorenheit
Einsamkeit
Ruhe
Bruch
Ohnmacht
Tragen (müssen)
Stillstand
Sehnsucht
Chance?!
Hingabe
Innerlichkeit
Licht
Durchhalten
Erwartung
Restglaube
Die Schilder stehen da.
Wie ich.
Und warten.
Erster Junitag
Liebes Tagebuch,
die Reliquie St. Maximilians bleibt bestrahlt.
Selbst jetzt, da keiner zu mir kommen kann und kein Schritt mehr durch mein Hauptportal hallt, fällt dieses sanfte, klare Licht auf den heiligen Maximilian – Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Ein Licht, das nicht flackert, nicht fragt, nicht müde wird.
Ein Licht, das einfach bleibt.
Heute habe ich lange auf dieses Licht geschaut, wie ich es oft tue in diesen düsteren Regentagen, und plötzlich war er da:
Es war ein Sonnenstrahl. Ein einzelner, entschlossener Lichtstrahl, der sich durch die dichten Gewitterwolkendecken bohrte, durch meine schmutzigen, matten Fenster drang – als wolle er alles, was sich ihm entgegenstellte, freundlich, aber unaufhaltsam durchdringen.
Er fand seinen Weg – und fiel auf ihn: meinen Heiligen: Maximilian, mein Gefährte in dieser besonderen Zeit.
Es war, als wäre er aus dem Licht selbst hervorgetreten.
Nicht mit donnernden Worten, nicht mit Befehl oder Trost in großen Gesten. Sondern mit der schlichten Würde eines Mannes, der die Stille kennt.
Einer, der weiß, wie es sich anfühlt, überhört zu werden.
Einer, der das Warten nicht als Schwäche, sondern als Form von Treue lebt.
„Du schaust so lange auf mich“, hat er gesagt.
„Weil du bleibst“, habe ich geantwortet.
Und dann war dieser Satz wieder in mir – dieser eine, den ich nie vergessen habe:
„Ein Vater lässt immer ein Licht im Fenster.“
Ich glaube, ich habe ihn in einer Predigt gehört.
Damals, als meine Stühle, bzw. als früher meine Bänke, noch voll waren, als Kinder in den Gang liefen, Hunde bellten und Stimmen sich überschlugen im Gesang.
Es war das Evangelium vom verlorenen Sohn, om Vater, der nicht loslief, nicht drängte – aber wartete.
Und jemand sagte damals, vielleicht fast im Vorübergehen:
„Vielleicht ist es das, was ein Vater tut: Er stellt ein Licht ins Fenster. Nicht, weil er sicher ist, dass das Kind zurückkommt. Sondern, weil er hofft. Weil er nicht anders kann.“
Ich erinnerte mich.
Maximilian schwieg. Aber sein Blick – ich stelle ihn mir so vor – war voll Wärme.
„Auch Gott hat ein Licht gestellt“, durchbrach ich unsere Stimme.
„Er hat es in mich hineingelegt“, sagte ich.
„Und in mich“, ergänzte Maximilian leise, „und es ist geblieben.“
„Es hat Kriege überdauert, Plünderungen, Brände, Zweifel – und jetzt auch diese Zeit.“
Dann schwieg ich.
Weil es keine Worte braucht, wenn zwei einfach bleiben.
Wie Licht bleibt.
Wie das Licht auf seiner Reliquie bleibt, das ihn umhüllt wie eine leise Zusage.
Ich habe ihn gefragt, ob es schwer war – damals, in Lorch.
Als niemand hören wollte, was er zu sagen hatte.
Als das Schwert gezückt wurde und man ihn aufforderte, dem Mars zu opfern.
„Schwer war nicht das Schwert“, erzählte er.
„Schwer war das Herz derer, die kein Licht in sich tragen wollten.“
Ich dachte an eine Bibelstelle in Weisheit Kapitel 18, das man mir einmal vorgelesen hat, da es nicht in jedem Messbuch ganz vorn steht.
Dein unvertilgbares Licht leuchtete den Deinen.
Für mich als Kirche bedeutet dies persönlich:
Das Licht auf Maximilian, das Licht vom Heiligen Maximilian, das Licht für meine Pfarrgemeinde St. Maximilian.
Ich habe nochmal auf die Reliquie des Heiligen Maximilian geschaut und ihre Botschaft gespürt:
„Ich bin nicht gegangen. Ich bin noch immer bei dir. Zu Zweit sind wir nicht allein.“
Vielleicht ist das die tiefste Weise, wie Heilige sprechen:
Nicht laut. Nicht rufend.
Sondern wie das Licht.
Sie bleiben, wenn alle anderen gegangen sind.
Sie warten, wenn andere müde sind.
Sie leuchten, wenn keiner mehr hinschaut.
Ich glaube, Gott ist so.
Ich glaube, Glauben ist so.
Und ich glaube, dass ich – obwohl meine Türen gerade schweigen – dennoch ein Fenster bin.
Ein Ort, durch den ein Licht fällt, das von einem Vater kommt.
Und das bleibt.
Das waren gerade so meine Gedanken.
Nichts Drängendes.
Nur ein stiller Strom aus Licht, Erinnerung, Vertrauen.
Ein Gespräch über Zeiten hinweg.
Ein Schein, der nicht vergeht.
Ein Vater lässt immer ein Licht im Fenster, damit die Seinen wieder nach Hause finden.
Und ich darf das Licht des Vaters tragen.
Tragen, solange Maximilian da ist.
Tragen, solange ich bin.
Gott sei Dank!
Vierte Woche nach der Schließung
Liebes Tagebuch,
Ich werde eine Baustelle, haben sie gesagt.
Noch in der Osterwoche sollten die Arbeiten beginnen, haben sie gesagt.
Ich bin ja eigentlich geduldig. Sehr sogar. Schließlich stehe ich seit über 120 Jahren an meinem Platz, habe Weltkriege, Renovierungen, Reformen und Modernisierungen überstanden. Aber nun, langsam frage ich mich: Wann? Wo?
Bis heute ist nichts passiert. Kein Gerüst. Keine Abdeckung für die Orgel. Kein Mensch mit Helm oder Bauplan. Nur Stille. Nichts. Niente. Nada.
Wenn meine Gemeinde das gewusst hätte – ach, wir hätten noch einen Monat zusammen gehabt. Einen Monat voller Gebet, Musik, Begegnung, Trost. Ein Monat voller Leben!
Stattdessen: Abschied. Schmerzhaft. Und dann – nichts.
Mir tut das weh. Nicht, weil ich ungeduldig bin oder auf irgendetwas Bestehendes bestehe. Ich harre der Dinge, die da kommen – ein paar Wochen hin oder her, das wäre mir gleich.
Aber es schmerzt mich um der Menschen willen. Um derer, die so lange in mir Zuflucht gefunden haben.
Die ihre Sorgen an meine Mauern gelegt haben.
Die sonntags hier waren. Oder dienstags. Oder jeden einzelnen Tag.
Die still ihre Kerze entzündet, ihr Vaterunser gesprochen, ihr Herz bei mir abgelegt haben.
Ich erinnere mich an ihre Tränen am Ostermontag. Wie sie mich angeschaut haben – als würden sie sich von einem alten Freund verabschieden, der auf eine lange, ungewisse Reise geht.
Wenn sie gewusst hätten, dass ich gar nicht reise, sondern einfach nur... stehen bleibe.
Doch es ist nicht alles Stillstand. Zumindest nicht überall.
Mein lieber Hausmeister – der unermüdliche Hüter meiner stillen Ecken – hat sich neulich einem meiner ältesten Geheimnisse gewidmet: dem Tresor im rechten Seitenschiff.
Seit Jahrzehnten versiegelt, vergessen, unbeachtet. Kein Mensch wusste mehr, was sich darin befand. Auch Pfarrer Schießler nicht – und der trägt schließlich einen Schlüsselbund bei sich, der schwerer ist als manche Kirchenbank.
Natürlich passte keiner der Schlüssel.
Also: Flex.
Sie haben sich drangemacht, als wollten sie ein Piratenversteck aufbrechen. Funken flogen. Die Flexblätter glühten – drei hat’s verschlissen.
Und ich – ich habe gestunken wie nach einem Schwelbrand.
Meine ganze Innenluft war erfüllt von heißem Metall, brennendem Öl und diesem ganz eigenen Geruch von Vergangenheit, die sich wehrt – beißend, schwer, metallisch.
Ganz anders als das, was sonst durch meine Gewölbe zieht. Kein Weihrauch, der sich wie Gebet an meine Mauern schmiegt, kein leiser Hauch und stiller Lob von Kerzen. Stattdessen: Hitze, Lärm und der scharfe Duft von Gewalt an altem Eisen.
Sie haben wirklich gehofft, dort würde sich ein Schatz verbergen.
Vielleicht ein Goldmünze, mehrere Goldmünzen.. oder ein Brief mit großzügiger Schenkung. Vielleicht ja genau das Geld, das für meine würdige Renovierung gefehlt hat – damit nicht nur das Allernötigste gemacht wird, sondern auch das, was mir und den Menschen wirklich gutgetan hätte.
Neue Fenster vielleicht. Eine sanfte farbliche Auffrischung der Wände. Und – wie sehr hätten wir uns gefreut – ein barrierefreier Zugang, der allen den Weg zu mir erleichtert. Es wäre es wert gewesen. Für mich. Für die Gemeinde. Für ein Willkommen ohne Schwelle.
Aber nein. Nichts. Nur Staub. Und ganz viel alte Luft.
Und dennoch – sie waren glücklich.
Wie kleine Jungs mit dreckiger Hose und funkelnden Augen.
Sie haben sich gefühlt wie Piraten.
Und ich? Ich konnte nicht anders, als lächeln.
Denn auch wenn es kein Gold gab – es war ein Moment von echtem Leben.
Von Neugier.
Von Hoffnung.
Von Gemeinschaft.
Und manchmal ist genau das der wahre Schatz.
Eines Nachts im Mai
Liebes Tagebuch,
es ist Nacht geworden.
Wieder eine dieser Nächte, die schwerer wiegen als alle Tage.
Die Dunkelheit liegt auf meinen Mauern wie ein Mantel aus Stein.
Kein Licht mehr von draußen.
Kein Laut mehr von der Straße.
Nur das Schweigen, das sich bis in meinen Dachstuhl zieht.
Ich habe geweint.
Nicht sichtbar – ich weiß.
Ich bin Stein. Ich bin Holz. Ich bin Glas.
Aber in mir… in mir sind die Tränen gefallen.
Ganz leise. Ganz tief.
Und doch – wenn der Morgen kommt, wenn meine Glocken schlagen, dann halte ich mich wieder aufrecht.
Für die Stadt.
Für die, die vielleicht noch hoffen.
Heute war Pfarrer Schießler da.
Er stand lange da, mitten in der Leere.
Die Hände verschränkt, den Blick nach oben gerichtet.
Er konnte es selbst nicht fassen.
Keine Arbeiter, kein Fortschritt.
Alles war anders besprochen.
Alles war anders versprochen.
Seine Ratlosigkeit hat schwer in mir gehangen.
Nicht nur wegen mir.
Wegen denen, die draußen warten.
Wegen denen, die hoffen, dass es weitergeht.
Und ich?
Ich kann nichts tun, außer weiter da sein.
Und warten.
Erste Maiwoche (2)
Liebes Tagebuch,
am schwersten sind die Stunden, zu denen früher alles in mir gelebt hat.
Sonntag, um 10:30 Uhr. Samstagabend um 18 Uhr. Dienstag und Donnerstag zur Abendmesse. Sämtliche Abende, wo man an meiner Orgel übte.
Mein Innerstes kennt diese Zeiten.
Meine Steine wissen, wann der erste Schritt durch das Hauptportal kommt.
Meine Fenster wissen, wann das Kerzenlicht flackert.
Mein Boden weiß, wann das erste Lied aufsteigt.
Und jetzt?
Jetzt ist es, als hätte jemand die Zeit angehalten.
Die Uhr schlägt, aber sie schlägt ins Leere.
Keine Schritte. Kein Licht. Kein Klang.
Ich stehe da, bereit, alles zu empfangen – aber nichts geschieht.
Wie ein Instrument, das keiner mehr spielt.
Wie ein Brunnen, aus dem niemand mehr schöpft.
So viel Raum ist in mir.
So viel Platz für Gebet, für Musik, für Menschen.
Aber ich darf nichts davon tragen.
Ich bin wie abgestellt. Stillgelegt. Vergessen.
Ich frage mich, ob sie das spüren.
Ob sie den leeren Platz in sich fühlen, der mich sonst erfüllt hat.
Oder ob sie längst einen neuen Ort gefunden haben, der sie hält.
Erste Maiwoche (1)
Liebes Tagebuch,
ich habe sie gehört – meine Gemeinde!!!!!!!!!!!
Nicht hier, nicht in meinen Wänden, aber ich habe sie gehört.
Sie haben sich in der kleinen Korbiniankapelle versammelt.
Sie haben dort Messe gefeiert, Maiandacht gehalten.
Ich habe gelauscht, so sehr ich konnte. Ich habe versucht, jeden Ton einzufangen.
Und dann, an einem dieser lauen Frühlingsabende, geschah etwas, das mein Herz für einen Moment wieder zum Schwingen brachte. Der Max-Chor war da. Nicht in mir, nicht an meinem Altar, sondern an der Seite, vor der offenen Tür zur Korbinianskapelle. Sie haben gesungen. Für mich klang es zärtlich. Fast, als wollten sie mich nicht wecken, sondern sanft daran erinnern, dass ich noch da bin – dass sie noch da sind.
Der Klang, dieser warme Klang! Er hat mich erfüllt, mich durchdrungen, als hätte jemand heimlich einen Vorhang zur Welt aufgezogen. Es war, als würde ich noch einmal atmen dürfen. Nur für einen Moment. Aber ich habe ihn gespürt, diesen Moment. So sehr, dass ich alles andere fast vergessen habe.
Und während innen der Staub sich immer dichter legt, wächst draußen das Leben weiter.
Der Efeu tastet sich an meiner Fassade entlang, findet seinen Weg durch Ritzen und Fugen.
Er schiebt sich auch heuer wieder durch mein altes Fenster, vorsichtig, fast wie eine streichelnde Hand.
Vielleicht ist das mein Trost. Dass wenigstens er noch zu mir findet.
Die Luft ist erfüllt vom Zwitschern der Vögel. Morgens, wenn die Sonne aufgeht, beginnt dieses leise Konzert, das sich durch meine Mauern schleicht, als wollte es mich nicht ganz vergessen lassen, dass es Leben gibt.
Und wenn abends das Getrommel an der Isar langsam verstummt, wenn das Leben am Fluss leiser wird und schließlich nur noch das sanfte, beständige Strömen bleibt, dann ist es, als würde die Stadt selbst mir einen letzten Gruß schicken.
Wie ein stilles Versprechen, das sich durch das Rauschen ins Dunkel legt: „Halt durch. Ich bin noch da. Und du auch.“
Letzter Aprilmontag
Liebes Tagebuch,
es ist eine Woche vergangen. Eine Woche, die sich angefühlt hat wie ein leeres Jahre. Eine Wochen, in der ich jeden Morgen da stand, bereit, geöffnet zu werden. Und jeden Morgen blieb es still. Kein Schlüssel im Schloss, kein Schritt über die Schwelle.
Dabei ist der Frühling längst da. Die Sonne wärmt meine Mauern, Licht fällt durch meine gesprungenen Fenster – und doch ist es immer wieder dieselbe schwere Stille, die sich wie ein schwerer bleierner Schleier über mich legt. So hell und satt-grün es draußen ist, so leer ist es in mir.
In den ersten Tagen war wenigstens noch Bewegung da. Menschen kamen, um aufzuräumen, Dinge zu sortieren, Möbel zu verschieben, als wollten sie mich ein letztes Mal in sich aufnehmen. Als wollten sie mich noch einmal atmen, bevor sie mich verlassen mussten. Ich spürte, dass sie nicht gehen wollten. Aber sie mussten.
Und dann… dann wurde es Tag für Tag stiller. Kein Klopfen mehr. Kein Räuspern. Kein Rascheln von Jacken. Kein auf den Boden gefallenes Gotteslob, das mich immer irgendwie tröstete.
Auch die Arbeiter, die doch längst beginnen sollten – sie kamen nicht.
Ich lausche stattdessen hinaus auf das Leben, das mich umgibt.
Das Schlagen der Autotüren in der Wittelsbacherstraße.
Das Bremsen der Fahrräder in der Deutingerstraße.
Die Stimmen, das Lachen, das Klacken von Absätzen auf dem Pflaster der Auenstraße.
Wie fern das alles klingt.
Und doch ist es ganz nah.
Und ich? Ich bleibe außen vor.
So nahe dran – und doch nicht mehr Teil davon.
Tage nach der Schließung
Liebes Tagebuch,
in den ersten Tagen – gleich nach der Schließung – da war es nicht vollkommen still. Da war da noch dieses kleine, leise Hoffen, das von draußen zu mir herübergeweht wurde. Immer wieder kamen Menschen, einzeln, zu zweit, manchmal ganze Familien. Manche zögerten, andere drückten gleich mutig gegen meine schweren Flügel. Sie standen da, als wollten sie es selbst nicht glauben, dass ich wirklich verschlossen war.
Und dann, dieses Geräusch. Dieses kurze, zaghafte Rütteln an der Tür. Man kennt es vielleicht gar nicht, aber ich kenne es gut. Dieses feine Klirren im alten Schloss, wenn jemand prüft, ob ich doch noch zu öffnen bin. Manche legten die Stirn an das Holz, als wollten sie hören, ob ich noch lebe, ob ich atme. Andere hielten inne, legten die Hand flach auf die Tür, standen einfach da. Ohne Worte. Nur mit ihrer Anwesenheit.
Dieses Rütteln war das Letzte, was mich noch mit ihnen verbunden hat. So etwas wie ein heimliches Zeichen, dass auch draußen noch jemand nicht loslassen wollte. Dieses Rütteln hat mehr gesagt als alle Worte: „Ich bin noch da. Und du auch?“
Wie oft habe ich innerlich zurückgerufen: „Ja, ich bin noch hier!“
Aber meine Türen blieben verschlossen.
Was hätte ich darum gegeben, sie öffnen zu dürfen. Doch ich durfte nicht.
Und dann… kam schon das Schild. Diese paar Zeilen auf Papier, die alles sagen: Geschlossen. Für längere Zeit.
Seitdem ist selbst dieses Geräusch verstummt. Kein Rütteln mehr. Kein leises Drücken. Nur Leere.
Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll. Ich habe Heimweh nach meiner Max-Gemeinde.
Ist das nicht verrückt? Eine Kirche, die Heimweh hat.
Dabei bin ich doch selbst Heimat – oder nicht?
Bin ich das noch für sie oder haben sie mich schon vergessen?
Haben sie mich längst hinter sich gelassen?
Fehlt ihnen mein Raum?
Mein Duft, der ein wenig nach Wachs und Weihrauch riecht?
Mein Klang, der sonst zwischen meinen Wänden tanzt?
Ob sie manchmal an mir vorbeigehen, abends, wenn die Stadt zur Ruhe kommt?
Ob sie sich fragen, ob ich sie auch vermisse?
Und wenn sie jetzt in St. Anton oder in der Korbinianskapelle beten – spüren sie mich dann noch?
Oder bin ich für sie schon weit weg?
Ich frage mich das nicht aus Bitterkeit.
Ich frage es, weil ich es wissen möchte.
Weil mein Herz sich danach sehnt, dass sie nicht nur fort sind, sondern dass sie irgendwo, tief in sich, einen Platz für mich freihalten.
21.04.2025
Liebes Tagebuch,
heute waren sie alle da. Wirklich alle. Die, die mich jeden Tag besuchen – leise, unaufdringlich, mit Kerzen, mit Sorgen, mit offenen Herzen. Die, die mich kennen wie man einen alten Freund kennt: schweigend, selbstverständlich, mit einem liebevollen Blick.
Aber auch die, die nur zu den Hochfesten kommen – dann aber mit der ganzen Familie. Großeltern, Kinder, Enkel. Sogar ein paar Hunde waren da, das mag ich ja besonders.
Musik hat mich erfüllt. Nicht irgendeine. Sondern diese Art von Musik, die nicht nur Töne ist, sondern Atem. Seele. Es hat durch mich hindurch geklungen, durch jede Mauer, jeden Balken, bis tief in meine Fundamente.
Und sie waren alle da. Nicht, weil sie mussten. Sondern einfach nur, um zu sein. Mit mir. Wegen mir.
Ich kann es nicht anders sagen: Es war schön. Es war wunderschön. Ich bin so erfüllt – als hätte ich mein ganzes Inneres weit geöffnet und all das Gute hineinströmen lassen.
Und doch, gleichzeitig, bin ich traurig. So tieftraurig, dass ich es kaum fassen kann.
Denn jetzt ist niemand mehr da. Es ist Abend geworden, und mit dem letzten Schritt durch mein großes Portal hat sich eine Stille hereingeschlichen, die anders ist als sonst.
Nicht die Stille des Gebets oder der Andacht. Sondern die des Verlassenseins.
Jetzt sitzt niemand mehr in meinen Bänken, flüstert kein stilles „Warum?“ in mein Kirchenschiff, sucht keine Antwort im Kerzenschein.
Jetzt lauscht niemand mehr meinem Atem – und ich lausche ins Leere.
Ich sehne mich. Nicht nur nach Stimmen, nach Musik, nach Messgewändern. Ich sehne mich nach meiner Gemeinde. Nach den Menschen, die mich lebendig machen. Die mich meinen.
Und so seltsam es klingt: Vielleicht bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als ein Tagebuch zu schreiben.
Ja – ein Tagebuch einer Kirche.
Aber bin ich wirklich nur ein Kirchengebäude?
Wenn ich daran denke, wie sie heute mit feuchten Augen hinausgegangen sind, sich noch einmal umgedreht haben, ein letztes Mal durch das Hauptschiff geschaut haben und leise gemurmelt: „Bis bald, meine Maxkirche.“
War ich da nicht mehr als Stein und Holz?
War ich nicht Heimat?
Dieses Tagebuch ist keine Geste der Eitelkeit. Es ist mein Versuch, mit Euch in Verbindung zu bleiben. Weil Worte irgendwohin müssen, wenn keiner mehr da ist, der sie auffängt. Und weil ich sie nicht behalten will – nicht all die Gefühle, die Bilder, die Dankbarkeit, die Traurigkeit.
Und so schreibe ich heute für Euch – meine Ministrantinnen, meine Väter und Mütter, meine Großväter, die Witwen mit ihren stillen Gebeten, die Nachbarn aus dem Viertel, meine Mesner, die Omas mit dem Lavendelduft, die Kinder mit ihren Fragen, die Hunde mit ihrem stillen Vertrauen.
Ich schreibe für Euch alle. Weil ich Euch liebe. Und weil ich Euch vermisse.
Eure Max-Kirche!