21.04.2024

Hirte und Herde: Das sind Bilder und Wahrnehmungen, die Menschen seit vielen tausenden von Jahren sehr vertraut sind. Man muss nur einmal an die Nomadenvölker denken, denen es zu eigen war, mit ihren Herden ständig auf Wanderschaft zu sein. Oder man erinnere sich nur einige Jahrzehnte zurück, als auch in unseren breiten in vielen Dörfern Menschen noch Vieh besaßen und für dieses Sorge tragen mussten. Und ein wunderbares Bild sind bis heute die Almabtriebe in den Alpen: Von den höher gelegenen Weiden werden die Tiere wieder zurück ins Tal getrieben und dort wieder ihren Besitzern zugeführt. Hirte und Herde, das sind Bilder, die uns zwar fremd geworden sind, die aber dennoch nie in Vergessenheit gerieten.

Für das alte Volk Israel waren Hirten und Herden ganz vertraute Größen. Israel selbst war anfangs eines dieser nomadisch lebenden Völker, das über die Steppen zog und nach geeigneten Weideflächen für das Vieh suchte. Und dieses Bild aus der Landwirtschaft hat das Volk Israel schon sehr früh übernommen, um es auf die eigene Lebensform zu übertragen. Der Chef eines Clans wurde als Hirte gesehen, der für die Menschen, die ihm anvertraut waren, sorgte. In späteren Jahren dann übernahm man dieses Bild, um es auf Gott zu übertragen. Gott wurde als der Hirte verstanden, der Sorge trug für seine Herde, der für sein Volk sorgte und es vor allerhand Gefahren beschützte. So, wie man sich im landwirtschaftlichen Alltag um die Herde kümmern musste, so wurde auch die Sorge Gottes für sein Volk begriffen. Da ist einer, der sich um uns sorgt, der ein Auge auf uns hat, der uns beschützt vor aller Gefahr und allem, was uns schaden könnte.

Doch das Bild vom Hirten und seiner Herde hat auch einen stark negativen Aspekt. Schon die ältesten Propheten des Volkes Israel haben darum gewusst. Als das Volk Israel beschließt, auch sich selbst einen König zu wählen, so, wie das in anderen Völkern der brauch ist, warnen die Propheten. Sie wissen um die Zwiespältigkeit einer solchen Königsherrschaft. Sie kennen auch die negativen Seiten, die ein solcher Alleinherrscher mit sich bringt. Sie sehen, wie schnell aus einem demokratisch bestimmten Anführer ein Tyrann werden kann. Das sind die Abgründe, die ein Herrscher mit sich bringt. Der Hirte des Volkes ist nicht immer ausschließlich positiv konnotiert. Es gibt auch den schlechten Anführer, den guten Hirten, der sich am Ende doch als Wolf im Schafspelz offenbart. Und es gibt die, die eigentlich nichts Ungutes im Sinn haben, denen aber letztlich die Macht zu Kopf steigt und die deshalb krude Vorstellungen ihrer eigenen Herrschaft entwickeln. Beispiele dafür gab es damals und die gibt es bis heute. Namen braucht man keine zu nennen. Es reicht, auf die vielen Kriegs- und Krisengebiete in dieser Welt zu verweisen, die zeigen, dass es längst nicht nur fürsorgliche Hirten gibt, die sich wohlwollend und liebevoll um ihre Herden kümmern. Zerrbilder der Hirten begegnen uns oft genug in den Nachrichten, grausame Despoten, die ihrem Volk mehr schaden, als dass sie ihm Nutzen bringen würden. All das haben die Propheten Israels schon vor Augen, als sie die nachdrückliche Warnung aussprechen, die Wahl eines Königs doch noch einmal in Ruhe zu überdenken.

Auch im heutigen Evangelium begegnet uns das Bild vom Hirten und der Herde. Jesus selbst ist es, der da sagt: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe“ (Joh 10,11). Letztlich heißt das nichts anderes als: Jesus kennt die Menschen. Er weiß um sie, so, wie ein Hirte seine Herde kennt. Jesus ist mit den Menschen vertraut, er sieht, was sie bewegt, und kümmert sich um sie. Und dazu kommt noch eine zweite Dimension, die wir ebenfalls im heutigen Evangelium kennenlernen: „Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne“ (Joh 10,14f.). Zur Kenntnis der Menschen gehört das Kennen Gottes eng dazu. Wie Jesus die Menschen kennt und um sie weiß, so kennt er auch den himmlischen Vater. Beides geht nur zusammen, beides ist aufs Engste miteinander verknüpft. Und so lässt sich sagen: Erst aus dem Kennen Gottes resultiert das Wissen um die Nöte und Sorgen der Menschen. So, wie Gott um die Menschen weiß, so kennt sie auch Jesus. Denn in Jesus nimmt die Sorge Gottes um die Menschen eine konkrete Gestalt an.

Damit ist etwas sehr Wichtiges ausgesagt: Wir stehen in einer sehr direkten Beziehung zu Gott. Denn in Jesus konkretisiert sich Gottes fürsorgliches Handeln für uns Menschen. In Jesus kommt Gott uns ganz nahe. In Christus ist Gott da für uns, um uns an der Liebe, die er selbst ist, Anteil zu geben. Das ist der Maßstab des guten Hirten Christus: dass in ihm spürbar wird, dass Gott uns liebt und uns in diese Liebe mithineinnimmt. Dass Hirtesein für Jesus zuerst bedeutet: die Menschen erkennen zu lassen, dass in ihm einer da ist, der uns unbedingt liebt und uns annimmt, so, wie wir sind. Und das ist das Beispiel für all jene, die heute den Hirten-Titel für sich beanspruchen. All jene, die wir heute in unserer Kirche als Hirten bezeichnen, haben vor allem eine Aufgabe: Sie müssen die Menschen spüren und erleben lassen, dass Gott sie liebt. Dass Gott sie unbedingt so annimmt, wie sie sind.

Es ist gut, wenn wir alljährlich am vierten Sonntag der Osterzeit einen Abschnitt aus der Hirtenrede Jesu hören. Denn Jahr um Jahr mahnt sie uns neu zur Selbstprüfung: Inwiefern entsprechen die Hirten der Kirche heute dem Ideal Jesu damals? Nehmen sie ihre Aufgabe, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen so Zeugnis zu geben von der unendlichen Liebe Gottes wirklich wahr? Oder sind manche, die sich vornerum gern als gute Hirten brüsten, in Wahrheit doch nur bezahlte Knechte, die dann ihrer Herde den Rücken zukehren, wenn es für diese eng wird? – All das sind Fragen, die beim Hören des heutigen Evangeliums aufkommen. Und es ist wichtig, sie immer und immer wieder in unserer Kirche zu stellen. Denn da hat keiner den gute-Hirten-Bonus, nur weil er Pfarrer oder Bischof ist. Jeder und jede muss sich in seiner und ihrer Hirtentätigkeit bewähren. Und jeder Hirte, jede Hirtin muss sich letztlich am Beispiel des guten Hirten Jesus Christus messen lassen. Keine leichte Aufgabe! Aber eine, die immer neu herausfordert, die zum Wachsen in der Liebe Gottes ermuntert. Und dazu sind wir letztendlich doch alle berufen: uns umfangen zu lassen von Gottes Liebe, die er uns in seinem Sohn Jesus Christus auf einmalige Weise erwiesen hat.

Fabian Brand