29.12.2024
Ein Skandal um ein skandalfreies Bild
Vor fast 150 Jahren wurde auf der Internationalen Kunstausstellung in München ein Bild ausgestellt, das einen großen öffentlichen Skandal auslöste und den bekannten Maler schließlich nötigte, sein aufwändig hergestelltes Bild zu übermalen. Was war geschehen? Max Liebermann, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, hatte sich nach seiner Italienreise intensiv mit dem Thema des zwölfjährigen Jesus im Tempel beschäftigt. In den Synagogen von Amsterdam und Venedig hatte er mit ersten Skizzen begonnen.
An seinem Gemälde „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ entzündeten sich damals tiefste antisemitische Ressentiments. 1879 wird es in München auf der internationalen Kunstausstellung erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Das Bild des zwölfjährigen Jesus zeige den „hässlichsten, naseweisesten Judenjungen, den man sich denken kann“, um ihn wären „schmierige Schacherjuden“ positioniert, wurde gegeifert. Es stände Liebermann, dem Juden, außerdem nicht zu, Jesus zu malen. Der Maler wäre ein „Herrgottsschänder“; sein Bild sei „ekelerregend“. Wären nicht viele seiner Kollegen und Prominente von diesem Bild sehr beeindruckt gewesen, Liebermann hätte es wohl ganz zerstört. So übermalte er es ‚bloß‘ und markierte damit eher unbewusst den eigentlichen Skandal eines unverhohlenen Antisemitismus, der ihm entgegenschlug.
Was war passiert? Jesus wurde im Original mit angedeuteten dunklen Schläfenlocken, dunklem Teint, gestikulierend mit ausdrucksstarken Händen gezeigt, inmitten einer Schar von frommen jüdischen Männern, die ihm in einer Synagoge interessiert zuhören: Jesus wird als ein aufgeweckter Bub mit schmalem Gesicht, im kurzen Kittel, mit nackten Beinen und Füßen dargestellt. Eine Frau, vermutlich Maria, steigt im Hintergrund eine Wendeltreppe von der Frauenempore hinab, um ihren entlaufenen Sohn endlich wieder in die Arme zu schließen. Ein Mann aus der Männergruppe wendet sich ihr zu, es könnte sein Vater Josef sein.
Unter dem öffentlichen Druck vollzog der Maler jedoch eine Form von „Whitewashing“ und übermalte das eindrucksvolle Kunstwerk. Jesu Teint malte er heller, seine Locken mittelblond und geglättet. Das wadenlange Gewand bedeckte nun ordentlich die Knie und der Junge trug saubere Sandalen. An der Szenerie änderte Max Liebermann Gott sei Dank wenig. 1884 wurde das übermalte Bild der Öffentlichkeit vorgestellt. Fotos des Originals und von einigen Skizzen sowie das übermalte Ölgemälde überstanden den Skandal. Letzteres kann man heute in der Hamburger Kunsthalle besichtigen.
Liebermann hielt sich von religiösen Themen von nun an fern. 1935 starb der gefeierte Künstler in Berlin. Seine Ehefrau beging 1943 Suizid, wenige Tage vor ihrer geplanten Deportation ins KZ.
Der zwölfjährige Jesus als Akteur
Trotz der Übermalungen – das neue Bild beeindruckt dennoch. Denn der junge Jesus steht hier weiterhin unzweifelhaft im Zentrum der Szenerie. Der Zwölfjährige – wie im Original – ist als ein Junge mit Selbstbewusstsein dargestellt, der ohne Scheu mit den erwachsenen Männern ein ernsthaftes, vermutlich religiöses Gespräch führt. Jesus wirkt keinesfalls scheu: Sein rechtes Bein aktiv nach vorne gestellt und mit einer aufrechten, offenen Haltung seiner gestikulierenden Hände wirkt das Kind wie ein erfahrener gelehrter Gesprächspartner, fast wie ein Lehrer.
Jesus macht seiner Zuhörerschaft deutlich: Ich habe euch Wichtiges zu sagen. Und seine erwachsenen Gesprächspartner hören sehr aufmerksam und keinesfalls gelangweilt-abweisend zu. Ja, zwei der Männer gehen auf Augenhöhe mit ihm, indem sie vor ihm sitzen; andere beugen sich interessiert zu ihm, dem Kind, hinunter. Wie sehr die Worte des jungen Jesus zum Nachdenken anregen, zeigen seine Gegenüber, mit Tallit, Kippa, langen Gewändern oder modern im Anzug. Gedankenvoll hält der sitzende Mann direkt dem Kind gegenüber seine Hand vor den Mund und streicht über seinen Bart, eine Geste der Konzentration. Links im Bild schaut ein Zuhörer an einem Lesepult diskret in ein Buch, vermutlich die Heiligen Schriften Israels, so, als wolle er kurz die Aussagen Jesu in der Schrift nachprüfen. Keine Frage, die Männer nehmen den Zwölfjährigen und seine Worte ernst. Die Szenerie ist von gegenseitigem Respekt und Würde geprägt. Hier denken, überlegen, disputieren Kind und Erwachsene gemeinsam – über Gott und die Welt.
Jesus, der Kindertheologe
Jesus steht im Bild durch seine Position in der Bildmitte, abgehoben durch sein helleres Gewand, den weißen Kachelboden, die zuhörende Haltung der Erwachsenen, im Zentrum: Sein Auftreten und seine Worte haben Bedeutung. Man ahnt: Hier will ein Kind den Erwachsenen etwas Bedeutsames sagen. Da die Beteiligten in einer Synagoge sitzen oder stehen, muss es um Gott gehen. Oder?
Vor 2.000 Jahren galten Kinder weder in der griechisch-römischen Antike noch in Israel als eigenständige Persönlichkeiten. Das hat sich zumindest in der Moderne in weiten Teilen der Erde geändert. Kindern wird heute die Kompetenz zugesprochen, selbstständig die Welt, die Menschen, sich selbst und auch Gott zu deuten. Nach der UN-Kinderrechtskonvention sind Kinder als eigene Menschen mit eigenen Rechten und Bedürfnissen zu würdigen, zu respektieren und zu schützen.
Autorinnen und Autoren der Kinderphilosophie und Kindertheologie gehen davon aus, dass Kinder selbst über die „‚großen Fragen‘ nach dem Woher und Wohin des Lebens, nach Gut und Böse, nach dem Sinn, dem Ziel und dem Grund des Lebens“ (Gerhard Büttner) nachdenken und eigene sinnhafte Antworten formulieren können. Kinder – bereits im Kindergartenalter – können sich mit Gott und den Bildern von ihm auseinandersetzen. Kinder gelten als Handelnde, Akteurinnen und Akteure ihrer eigenen Sinn- und Gottessuche. Erwachsene können ihnen hier maximal unterstützend mit Anstößen und Hintergrundwissen zur Seite stehen. Geahnt haben das kluge Theologen und Theologinnen schon immer: „Die khindlen haben so feine gedancken dedeo [über Gott]“, meinte schon Martin Luther. Ob diese „feinen“ Gedanken der Kinder über Gott immer in Kirche und Christentum ernst genommen und respektiert wurden und werden, ist dennoch zu fragen.
Das Meisterwerk Liebermanns „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ zeigt so gesehen einen jungen Kindertheologen bei der Arbeit und seine erwachsenen Gegenüber, die ihm tatsächlich aufmerksam zuhören und mit ihm sprechen. Ob mit oder ohne christliche Ausdeutung – der junge Protagonist im Bild diskutiert mit den Männern in der Synagoge auf Augenhöhe über Gott. Der Zuhörer links am Lesepult nimmt den Jungen, der offensichtlich schriftkundig ist, beim Wort und schaut in die Heilige Schrift. Zweifellos, wer Aussagen seines Gesprächspartners in der Heiligen Schrift nachprüft, der nimmt dessen Worte ernst.
Wir wissen nicht, ob Max Liebermann hier in das Gemälde seine eigenen Kindheitserfahrungen eingebracht hat. Es ist zu vermuten, denn die Bar Mizwa-Feier gab es im 19. Jhdt. bereits. Ab diesem Zeitpunkt galt ein jüdischer Junge mit 12–13 Jahren als vollwertiges Mitglied der Gemeinde, durfte aus der Thora vorlesen und musste alle religiösen Pflichten eines Erwachsenen erfüllen. So vereinen sich in der Jesusfigur des Kunstwerks vermutlich christliche und jüdische Aspekte.
Was bleibt, ist ein eindrucksvolles Gemälde, in dessen Rahmen ein zwölfjähriges Kind im Mittelpunkt eines gelehrten Gesprächs über Gott steht. Der Junge hat etwas zu sagen und die Erwachsenen um ihn herum hören aufmerksam zu.
Dorothee Boss